Jetzt gibt es also ein Internet-Manifest oder "Wie Journalismus heute funktioniert. 17 Behauptungen". Verfasst und unterzeichnet haben es 15, oft so genannte Alpha-Blogger, von denen ich gerade mal drei dem Namen nach kenne und mich erinnern kann von zweien bewusst etwas gelesen zu haben. Das Blog von einem von ihnen hatte ich sogar einmal abonniert, aber irgendwie konnte ich mit dem von mir undifferenziert empfundenen Nachgeplappere wenig anfangen.
Wie es sich für eine unabhängige, selbständige Gemeinschaft mit eigener Meinung gehört, schwang sofort großes Frohlocken und Hosianna-Singen durch die ganze Blogosphere und führte damit die These 16 gleich einmal ad absurdum. Aber so ist es nun einmal, wenn die Alpha-Tierchen blöken, folgt die Herde.
Einzig Besim Karadeniz habe ich bisher gefunden, der sich auf netplanet.org in "Ein Internet-Manifest." ansatzweise kritisch äußert.
Update:
Verfasst man ein Manifest, spielt man in einer hohen Liga. Zur Begrifflichkeit des Manifests sagt die deutsche Wikipedia:
Ein Manifest (lat.: manifestus, „handgreiflich gemacht“) ist eine öffentliche Erklärung von Zielen und Absichten, oftmals politischer Natur.
In der mit "Internet-Manifest" bezeichneten Veröffentlichung findet sich weder das eine noch das andere. Es ist eine mehr oder weniger zusammenhanglose, sich teilweise wiederholende Aneinanderreihung von Über- und Unterschriften - der Begriff "Manifest" ist also völlig unpassend (aber, "die Domain war noch frei"). Begriffe scheinen überhaupt nicht die Stärke der Verfasser zu sein, denn Internet, Web, Blog und Medien werfen sie wild durcheinander und beim Begriff Journalismus scheinen ihre und meine Meinung auseinanderzugehen.
Werfen wir doch einen genaueren Blick auf die einzelnen Aussagen:
Die 17 Phrasen
1. Das Internet ist anders.
Es schafft andere Öffentlichkeiten, andere Austauschverhältnisse und andere Kulturtechniken. Die Medien müssen ihre Arbeitsweise der technologischen Realität anpassen, statt sie zu ignorieren oder zu bekämpfen. Sie haben die Pflicht, auf Basis der zur Verfügung stehenden Technik den bestmöglichen Journalismus zu entwickeln - das schließt neue journalistische Produkte und Methoden mit ein.
"Draussen ist es kälter als nachts." Anders also - anders als was? Gleich die erste Phrase eine Nullaussage. Vermutlich meinen sie, dass das Internet ein ganz anderes Medium sei als die herkömmlichen. Aber zum einen stimmt das nicht und zum anderen müssen sich die anderen Medien nicht ändern, denn das können sie nicht. Ein Buch verwandelt sich nicht mal eben so in ein E-Book, aus einer gedruckten Zeitung wird nicht eben mal irgendwas mit einem Flash-Plugin auf der Frontseite - und nebenbei will das glaube ich auch niemand - und im Radio kann ich nicht eben mal einen Hyperlink anklicken. Damit der Satz einen Sinn ergibt müsste wenn schon statt "Medium" der Begriff "Mensch" stehen.
"Neue Öffentlichkeiten" - in der Theorie ja. Dazu gehört aber auch, dass irgendjemand es wahrnimmt. Dass das nicht so einfach passiert ist ein Problem, dem ganze Herden von SEOs Herr zu werden versprechen, also ein reines PR Problem und das haben die anderen Medien auch.
"Andere Austauschverhältnisse" - ein in diesem Zusammenhang völlig nichtssagendes Buzzword.
"Andere Kulturtechniken" - ein erneutes Buzzword ohne weitere Erklärung. Es ist zu vermuten, dass es um die Beherrschung von Informations- und Kommunikationstechnologien gehen soll. Auch diese sind nicht grundsätzlich Internet-relevant und nicht vom Internet geschaffen. Zumal läßt die Geschwindigkeit des Technologieumschwungs es als zweifelhaft erscheinen, ob diese Techniken von Dauer und damit wirklich kulturbeeinflussend sind.
So anders ist das Internet als (Transport-)Medium also gar nicht. Im Internet ist der generelle Informationsfluß schneller. Ich bin nicht darauf angewiesen, dass jemand eine Nachrichtensendung zu einer bestimmten Uhrzeit sendet oder dass der Austräger morgens die Zeitung bringt. Ich kann den Zeitpunkt besser selbst bestimmen. Der Verbreitungsgrad ist grösser. Informationen können unabhängig vom Ort der Veröffentlichung sofort fast überall auf der Erde abgerufen werden und jeder kann Informationen einstellen. Ich kann nicht nur mit meiner Familie, Freunden, Arbeitskollegen oder am Stammtisch, sondern ebenfalls mit Leuten diskutieren, die ich überhaupt nicht kenne.
Dies sind aber Details, die nicht einen wesentlichen oder gar grundlegenden Unterschied zu herkömmlichen Medien definieren.
2. Das Internet ist ein Medienimperium in der Jackentasche.
Das Web ordnet das bestehende Mediensystem neu: Es überwindet dessen bisherige Begrenzungen und Oligopole. Veröffentlichung und Verbreitung medialer Inhalte sind nicht mehr mit hohen Investitionen verbunden. Das Selbstverständnis des Journalismus wird seiner Schlüssellochfunktion beraubt - zum Glück. Es bleibt nur die journalistische Qualität, die Journalismus von bloßer Veröffentlichung unterscheidet.
Das Internet ist kein Imperium. (Noch) wird es von niemandem (zentralistisch) regiert.
Oh, und jetzt ist plötzlich die Rede vom Web und nicht mehr vom Internet. Eine weitere Verwirrung. Das Internet ist nicht das Web ist nicht die Blogosphäre ist nicht ein Social Network ist nicht die Blogosphäre ist nicht das Web ist nicht das Internet.
Das Internet und die darüber angebotenen Dienste mögen zu einer Aufweichung bestehender Oligopole geführt haben, aber dafür wurden auch jede Menge neue geschaffen: Google (diverse Dienste), Youtube, Flickr, Facebook, Twitter, XING, ... Da ist wieder das Thema SEO. Findet man etwas nicht bei Google, existiert es nicht. Ist man nicht Teil von <Insert Social Network here> ist man ausgeschlossen. Hat man nicht das richtige DRM-System geht gar nichts.
Wichtig ist hier zwischen Internet und Diensten zu unterscheiden.
Gerade unter dem Vorzeichen der Netzneutralität gewinnen diese neu geschaffenen Oligopole eine wichtige Bedeutung.
3. Das Internet ist die Gesellschaft ist das Internet.
Für die Mehrheit der Menschen in der westlichen Welt gehören Angebote wie Social Networks, Wikipedia oder Youtube zum Alltag. Sie sind so selbstverständlich wie Telefon oder Fernsehen. Wenn Medienhäuser weiter existieren wollen, müssen sie die Lebenswelt der Nutzer verstehen und sich ihrer Kommunikationsformen annehmen. Dazu gehören die sozialen Grundfunktionen der Kommunikation: Zuhören und Reagieren, auch bekannt als Dialog.
Das Internet ist aber nicht die westliche Welt. Das Internet ist weltumspannend und interkulturell und schon gar nicht orientiert es sich an Staatsgrenzen, sehr zum Ärger von Politikern und Möchtegern-Blockwarten weltweit. Selbst wenn man den globalen Charakter außer acht läßt, gibt es erhebliche Unterschiede zwischen einer Gesellschaft und Kultur im Internet und der im nicht-Internet Lebensraum. (Ich schreibe mit Absicht nicht "im realen Leben", weil beides Bestandteile meines realen Lebens sind). Das sieht man sofort am Umgang miteinander. Dass dies fatalerweise auch die Menschen im Internet so sehen zeigt sich z.B. am eher sorglosen Umgang mit persönlichen Informationen im "anonymen" Medium.
Das Internet hat in Ländern wie Korea einen ganz anderen Stellenwert als in Europa und beide unterscheiden sich wesentlich vom Stellenwert im Iran. Und trotz der gesellschaftlichen und kulturellen Unterschiede und der anderen Bewertung sind alle in einem einzigen Internet zusammengeschlossen.
4. Die Freiheit des Internet ist unantastbar.
Die offene Architektur des Internet bildet das informationstechnische Grundgesetz einer digital kommunizierenden Gesellschaft und damit des Journalismus. Sie darf nicht zum Schutz der wirtschaftlichen oder politischen Einzelinteressen verändert werden, die sich oft hinter vermeintlichen Allgemeininteressen verbergen. Internet-Zugangssperren gleich welcher Form gefährden den freien Austausch von Informationen und beschädigen das grundlegende Recht auf selbstbestimmte Informiertheit.
Offene Architektur des Internet? Informationstechnisches Grundgesetz? Wieder einmal inhaltsleere Buzzwords. Ein Verständisversuch wird erschwert dadurch, dass Begriffe wie Internet, Web und Blogosphäre schon vorher wild durcheinander gewürfelt wurden.
Die "offene Architektur" des Internet bedeutet, dass wenn ich jemanden finde der meine Pakete von und zu mir transportiert, ich Teil des Internet werde und damit theoretisch mit jedem anderen, der die gleichen Voraussetzungen erfüllt, beliebige Daten austauschen kann. Das geht vom Rechner zu Hause über DSL angebunden los und hört bei den grossen Providern und deren Peering-Abkommen auf. Meinen sie das? Anscheinend nicht, oder sie ignorieren komplett bestehende Realitäten. Firewalls, Filter, Zugriffsbeschränkungen, Tarifverträge initiiert von der Staatsgewalt oder der Wirtschaft oder auch nur von Eltern beschränken schon seit langem den Zugriff auf das Internet. In gewissen Grenzen und Fällen ist das auch gut so. Nicht jede "Information" ist für jede Altersstufe geeignet und 6-jährige (alleine) haben nichts im Internet verloren. Nicht jede firmeninterne Information ist für die Allgemeinheit gedacht.
"Internet-Zugangssperren gleich welcher Form" ist bei der gegenwärtigen Diskussion vor allem in Deutschland vielleicht opportun, aber auch komplett kurzsichtig und realitätsfremd.
5. Das Internet ist der Sieg der Information.
Bisher ordneten, erzwungen durch die unzulängliche Technologie, Institutionen wie Medienhäuser, Forschungsstellen oder öffentliche Einrichtungen die Informationen der Welt. Nun richtet sich jeder Bürger seine individuellen Nachrichtenfilter ein, während Suchmaschinen Informationsmengen in nie gekanntem Umfang erschließen. Der einzelne Mensch kann sich so gut informieren wie nie zuvor.
Das Internet ist der Zusammenschluß aller auf dem Internet-Protokoll basierenden internets. Es ist ein Transportmedium und kein Preis.
Dass die Nachrichtenfilter nicht funktionieren, selbst wenn Profis sich darum kümmern, zeigt alleine schon die Spam-Plage. Ich sehe auch nicht, was so schlimm daran sein soll, wenn Profis Informationen ordnen. Genau diese Ordnung bieten aber die Nachrichtenfilter oder die Ergebnislisten der Suchmaschinen nicht und werden zudem laufend torpediert, getrieben von wirtschaftlichen Interessen durch SEOs oder "Meinungsmachern". Wie leicht dies ist zeigen u.a. zahllose "Google Bombs" oder die mittlerweile fast unbrauchbaren Hotelbewertungssysteme.
Die Flut an Informationen in Form von Suchmaschinenergebnissen ist kaum mehr beherrschbar und erfordert zudem immer mehr Zeitaufwand für immer die gleichen Tätigkeiten durch den Einzelnen - verschwendete Zeit von Millionen von Individuen, die zu Lasten ihrer Freizeit geht. Mit einem reinen Ergebnis ist es dann auch nicht getan. Danach ist eine weitere Recherche nötig um sicher zu stellen, dass man nicht einem Möchtegern-Auskenner aufgesessen ist - noch mehr verlorene Zeit.
6. Das Internet verändert verbessert den Journalismus.
Durch das Internet kann der Journalismus seine gesellschaftsbildenden Aufgaben auf neue Weise wahrnehmen. Dazu gehört die Darstellung der Information als sich ständig verändernder fortlaufender Prozess; der Verlust der Unveränderlichkeit des Gedruckten ist ein Gewinn. Wer in dieser neuen Informationswelt bestehen will, braucht neuen Idealismus, neue journalistische Ideen und Freude am Ausschöpfen der neuen Möglichkeiten.
Der "Verlust der Unveränderlichkeit des Gedruckten" ist ein sehr zweischneidiges Schwert. Das Positive kann sehr schnell ins Negative umschlagen: Daten werden gelöscht und haben damit angeblich nie existiert oder entstehen plötzlich aus dem Nichts, waren aber scheinbar schon immer vorhanden. Manipulationen gehen dann ganz sauber, fast klinisch rein und ohne Aufmerksamkeit erregende Bücherverbrennungen vor sich.
Nichts, was wir heute haben, schon gar nicht Neuerungen des Informationszeitalters, überdauert die Zeit so zuverlässlich wie in Stein gehauene Hieroglyphen.
Für mich ist die wahre Verbesserung des Journalismus durch die Nutzung des Internets die Tatsache, dass es leichter wird aktuelle Informationen zu neuen Themengebieten zu finden, Kontakte aufzutun und mit diesen und bereits bestehenden Kontakten in Verbindung zu bleiben. Überall, schnell und unkompliziert.
7. Das Netz verlangt Vernetzung.
Links sind Verbindungen. Wir kennen uns durch Links. Wer sie nicht nutzt, schließt sich aus dem gesellschaftlichen Diskurs aus. Das gilt auch für die Online-Auftritte klassischer Medienhäuser.
"Links sind Verbindungen" - Respekt, da hat jemand im Englischunterricht aufgepasst.
Diese Phrase ist aber einmal mehr eine Nullphrase. Ein Netz heißt ja gerade deshalb Netz, weil es Knoten mit Querverbindungen versieht. Aber von was für einem Netz ist diesmal die Rede? Das Internet? Zwischenmenschliche / gesellschaftliche Beziehungen?
Warum muß eine Verbindung zu jemandem existieren, um über ihn zu diskutieren. Man kann dann nicht mit ihm diskutieren, aber das will er ja vielleicht gar nicht. Ich suche mir meine Diskussionspartner gerne selbst aus, bevorzugt solche, bei denen zu erwarten ist, dass mich die Diskussion in meinen Ansichten und meinem Verständnis des Themas weiterbringt. Diese Entscheidung halte ich für eines meiner grundlegenden Rechte. Freie Meinung und Entscheidung. Themen aufzuwerfen heißt doch nicht notwendigerweise, dass man sich auch an der Diskussion beteiligen muß oder anderen seine Meinung vorgeben muß.
Sollte es nicht die erste Tugend eines Journalisten sein über Fakten zu berichten und Denkanstöße zu geben ohne den Menschen gleich eine vorgefertigte Meinung zu präsentieren?
8. Links lohnen, Zitate zieren.
Suchmaschinen und Aggregatoren fördern den Qualitätsjournalismus: Sie erhöhen langfristig die Auffindbarkeit von herausragenden Inhalten und sind so integraler Teil der neuen, vernetzten Öffentlichkeit. Referenzen durch Verlinkungen und Zitate – auch und gerade ohne Absprache oder gar Entlohnung des Urhebers – ermöglichen überhaupt erst die Kultur des vernetzten Gesellschaftsdiskurses und sind unbedingt schützenswert.
Ich vermisse bei den Suchmaschinen und Aggregatoren, die ich so kenne, den Knopf für den Filter "nur herausragende Inhalte anzeigen". Vielleicht liegt das daran, dass es recht schwierig ist eine generell gültige Klassifikation für "heraussragend" zu finden oder aber es gäbe dann zu manchen Themen gar keine Ergebnisse. Ein typisches Versäumnis eines Alpha-Tierchens, bei dem per Definition alles eigene "herausragend" ist.
Offensichtlich bewegen wir uns bei dieser Phrase wieder im Web oder der Blogosphäre. Ein "vernetzter Gesellschaftsdiskurs" findet - trotz Verlinkung, Pingbacks oder Trackbacks - dennoch nicht statt. Ganz im Gegenteil, durch die zahllosen Orte (Blogs, Foren), an denen die Meinungen und Kommentare veröffentlicht werden, wird der Diskurs komplett zerfleddert und damit wieder isoliert. Dies bedarf wohl einer Erklärung:
Blog A veröffentlicht einen Artikel. In Blog A gibt es dazu einen Diskurs in Form von direkten Kommentaren. Nun schreiben Blog B und Blog C eigene Artikel, die sich mit dem Artikel von Blog A auseinandersetzen. Durch Hyperlinks, Pingback und Trackback werden diese bei Blog A als Kommentare assoziert. Auch in den Blogs B und C entwickelt sich eine Diskussion in Form von Kommentaren zu diesem Thema. Diese Diskussionen sind aber schon nicht mehr mit der Diskussion auf Blog A direkt verbunden. Erweitert man nun die Distanz der Hyperlinks zu Blog A um die Blogs D, E, F und G, die auf die Blogs B und C referenzieren, so wird jedem sehr schnell klar, dass ein vernünftiger Diskurs alleine zu diesem einen Thema - trotz Verknüpfung über Hyperlinks - ausgeschlossen ist.
Noch viel evidenter wird die Zerfledderung und Isolation, wenn die Referenzen aus geschlossenen Benutzergruppen wie Foren oder Social Networks kommen, bei denen man ohne Beitritt keinen, oft nicht einmal lesenden, aber so gut wie nie schreibenden, Zugriff erhält.
Hyperlinks und Zitate stellen im Web in der Tat ein schützenswertes Gut dar. Die Begründung dafür ist falsch.
9. Das Internet ist der neue Ort für den politischen Diskurs.
Demokratie lebt von Beteiligung und Informationsfreiheit. Die Überführung der politischen Diskussion von den traditionellen Medien ins Internet und die Erweiterung dieser Diskussion um die aktive Beteiligung der Öffentlichkeit ist eine neue Aufgabe des Journalismus.
Richtig wäre: "Das Internet ist ein weiterer Ort für den politischen Diskurs", oder wollen die Unterzeichner technophobe Menschen oder vor allem die ältere Generation oder Menschen ohne geographisch bedingten (schnellen, günstigen) Breitbandzugang vom politischen Diskurs auschliessen? Eine befremdliche Einstellung zur Demokratie. Wie schon bei den Phrasen 5 und 8 gezeigt wird ein Diskurs im Internet immer zeitaufwändiger.
Die Aufgabe des Journalismus soll es also sein Menschen, die derartige Diskussionen lieber bei einem Stammtisch oder anderen Gelegenheiten führen davon zu überzeugen, dass sie das im Internet, dem bevorzugten Medium der Alpha-Tierchen machen sollen, ansonsten sind die undemokratisch? Wie gnadenlos arrogant ist das denn?
10. Die neue Pressefreiheit heißt Meinungsfreiheit.
Artikel 5 des Grundgesetzes konstituiert kein Schutzrecht für Berufsstände oder technisch tradierte Geschäftsmodelle. Das Internet hebt die technologischen Grenzen zwischen Amateur und Profi auf. Deshalb muss das Privileg der Pressefreiheit für jeden gelten, der zur Erfüllung der journalistischen Aufgaben beitragen kann. Qualitativ zu unterscheiden ist nicht zwischen bezahltem und unbezahltem, sondern zwischen gutem und schlechtem Journalismus.
Das Problem ist nicht die Unterscheidung Meinungsfreiheit oder Pressefreiheit. Das Problem ist die wirtschaftliche und materielle Gefahr, in die sich jeder begibt, der nicht entsprechenden Rückhalt (z.B. durch einen großes Medienhaus) im Hintergrund hat. Je besser (oder naiver) der Journalist und je stärker er die Finger in die Wunden der Gegenüber legt, desto größer wird das Risiko in kostspielige und langwierige juristische Auseinandersetzungen verwickelt zu werden. Zur vordergründigen Abwehr eventuellen Schadens, willigen die Betroffenen oft (und zu Unrecht) in Abmahnungen, Unterlassungserklärungen oder Vergleiche ein. Es ist selbstverständlich, dass bezahlte Journalisten oder Journalisten mit einem zweiten, gut bezahlten Standbein als Werbekaspar "freier" sind, als beispielsweise ein arbeitsloser Amateur-Journalist.
11. Mehr ist mehr – es gibt kein Zuviel an Information.
Es waren einst Institutionen wie die Kirche, die der Macht den Vorrang vor individueller Informiertheit gaben und bei der Erfindung des Buchdrucks vor einer Flut unüberprüfter Information warnten. Auf der anderen Seite standen Pamphletisten, Enzyklopädisten und Journalisten, die bewiesen, dass mehr Informationen zu mehr Freiheit führen - sowohl für den Einzelnen wie auch für die Gesellschaft. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Es gibt für alles eine obere Grenze. Erzählt man einem Wüstenbewohner, "es gibt kein Zuviel an Wasser", mag dieser vielleicht zustimmen. Weniger Zustimmung erhält man ganz sicherlich von Menschen, die in Hochwasser / Überschwemmungsgebieten wohnen.
Informationsflut ohne qualifizierende Bewertung führt keineswegs zu mehr Freiheit. Automatisierte Bewertungsschemen führen zu Hypes und Hyperlinkstürmen. Treue Anhänger einiger Alpha-Tierchen folgen als unreflektierende Abschreiberlinge im Fahrwasser, um auch ein paar Pünktchen auf der Skala abzubekommen. All dies hat nichts mit (einem Zugewinn an) Freiheit zu tun.
Für den Vergleich mit dem Buchdruck reicht eine Krücke schon nicht mehr aus, der braucht einen Rollstuhl.
Die Einzigen, die zu dieser Zeit die finanzielle und technische Leistung einer gewissen Massenproduktion erbringen konnten, war der Klerus, der damit eine Monopolstellung hatte. Dies betraf auch das "Was" zu Papier gebracht und vervielfältigt wurde. Von eben Klerikalen erfolgte auch die Übersetzung und Interpretation der Texte von der Kanzel aus. Bücher waren zu wertvoll, als dass sie sich die breite Öffentlichkeit hätte leisten können. Der Buchdruck änderte das in zwei Richtungen: es wurde kostengünstiger zu produzieren und damit kostengünstiger zu konsumieren. Dies brach die Monopole für Produktion und Meinungsbildung des Klerus und sorgte damit für mehr Freiheit. Mit den heutigen Medien und Medienproduzenten ist die Situation aber grundlegend anders.
Die Flut an Informationen führt heutzutage - ganz im Gegenteil - zu einer Beschränkung der Freiheit. Die Welt rückt enger zusammen, Distanzen werden als immer geringer empfunden. Damit passieren Ereignisse, die mehrere hundert Kilomenter entfernt stattfinden plötzlich gefühlt "vor der Haustüre". Hat man sich früher darüber unterhalten, dass es einen Diebstahl pro Jahr im Ort gab, redet man heute darüber, dass es Millionen von Diebstählen pro Tag auf der Welt gibt.
Die Konsequenz daraus ist eine zunehmende Existenzangst in der Gesellschaft, die von Politikern und ihren fiktiven Horrorszenarien von Terroranschlägen, zum eigenen Nutzen, noch weiter geschürt wird.
12. Tradition ist kein Geschäftsmodell.
Mit journalistischen Inhalten lässt sich im Internet Geld verdienen. Dafür gibt es bereits heute viele Beispiele. Das wettbewerbsintensive Internet erfordert aber die Anpassung der Geschäftsmodelle an die Strukturen des Netzes. Niemand sollte versuchen, sich dieser notwendigen Anpassung durch eine Politik des Bestandsschutzes zu entziehen. Journalismus braucht einen offenen Wettstreit um die besten Lösungen der Refinanzierung im Netz und den Mut, in ihre vielfältige Umsetzung zu investieren
Natürlich kann man über das Internet Geld mit Journalismus verdienen. Ein wenig zumindest. Ganz offensichtlich aber nicht genug, denn nicht einmal die Alpa-Tierchen sind alle völlig frei und unabhängig, sondern arbeiten - soweit ich das stichprobenweise überprüft habe oder es eh bekannt ist - genau für die Medienunternehmen, die sie so verdammen.
Wenn hunderte von Regionalzeitungen alle das Gleiche drucken, ist das kein Problem. Die meisten der Blättchen haben ein schnittmengenfreies Verteilungsgebiet oder zumindest eine schnittmengenfreie Leserschaft. Das Internet ist aber regionalfrei. Hunderte Webauftritte dieser Regionalzeitungen mit immer gleichen, ja sogar identischen Nachrichten, da von großen Agenturen übernommen, sorgen im Internet für keinerlei Aufmerksamkeit. Die Zeitung ist nicht mehr die Zeitung der Region, sondern eine von tausenden im Netz, mit den gleichen Meldungen wie alle anderen. Ein Internetauftritt einer Regionalzeitung ist deshalb kein Selbstläufer, sondern in der Regel ein Reinfall. Deshalb wird aber die Zeitung per se nicht sterben und muß sich auch nicht ändern - zumindest nicht für noch eine ganze Reihe von Jahren.
Aber ja, ein Wandel muß und wird stattfinden, aber ein Wandel in dem alle sich zum Gleichen wandeln wird wenig Erfolg versprechend sein.
13. Im Internet wird das Urheberrecht zur Bürgerpflicht.
Das Urheberrecht ist ein zentraler* Eckpfeiler der Informationsordnung im Internet. Das Recht der Urheber, über Art und Umfang der Verbreitung ihrer Inhalte zu entscheiden, gilt auch im Netz. Dabei darf das Urheberrecht aber nicht als Hebel missbraucht werden, überholte Distributionsmechanismen abzusichern und sich neuen Vertriebs- und Lizenzmodellen zu verschließen. Eigentum verpflichtet.
*) Stilblüten-Alarm aufgehoben
Dagegen gibt es prinzipiell wenig zu sagen. Was mir aber fehlt ist der Umgang mit und die Lizensierung von z.B. staatlich bezahlten oder geförderten Abhandlungen und Forschungsergebnissen. Sollten nicht - um der Hebelwirkung vorzubeugen - die Inhalte möglichst frei lizensiert werden? Wo bleibt der Hinweis auf eine ethische und ehrenhafte Selbstverpflichtung? Sollte nicht trotz einer Creative Commons BY-SA Lizenz eine moralische Verpflichtung bestehen, dem Urheber nach einer erfolgreichen kommerziellen Verwertung durch Dritte zumindest eine angemessene Anerkennung zukommen zu lassen?
14. Das Internet kennt viele Währungen.
Werbefinanzierte journalistische Online-Angebote tauschen Inhalte gegen Aufmerksamkeit für Werbebotschaften. Die Zeit eines Lesers, Zuschauers oder Zuhörers hat einen Wert. Dieser Zusammenhang gehört seit jeher zu den grundlegenden Finanzierungsprinzipien für Journalismus. Andere journalistisch vertretbare Formen der Refinanzierung wollen entdeckt und erprobt werden.
Bisher kennt das Internet nur zwei Währungen: werbefinanzierte Angebote und bezahlte, geschlossene Benutzergruppen.
Werbung auf Seiten wird mit Werbeblockern effizient und effektiv ausgeblendet. Zudem führt die wenig individuelle Gestaltung der Seiten und die Einblendung der Werbung an immer den gleichen Stellen in immer gleichen Formaten sehr schnell zu "blinden Flecken" - zumindest bei den Vielsurfern, so dass selbst vorhandene Werbung nicht mehr bewusst wahrgenommen wird.
Es gibt allerdings auch noch die "Finanzierungsklicker", die erkannt haben, dass ein freier, werbefinanzierter Dienst nur funktioniert, wenn die Werbenden sich von der Werbung Erfolg versprechen. Deshalb klicken diese ein oder zweimal am Tag auf irgendwelche Werbebanner um die Finanzierung und damit die Freiheit des Dienstes zu sichern. Dies ist aber keienswegs ein Tausch von Inhalten gegen Aufmerksamkeit für Werbebotschaften, denn die Aufmerksamkeit (und damit die Nachhaltigkeit) fehlt vollständig
15. Was im Netz ist, bleibt im Netz.
Das Internet hebt den Journalismus auf eine qualitativ neue Ebene. Online müssen Texte, Töne und Bilder nicht mehr flüchtig sein. Sie bleiben abrufbar und werden so zu einem Archiv der Zeitgeschichte. Journalismus muss die Entwicklungen der Information, ihrer Interpretation und den Irrtum mitberücksichtigen, also Fehler zugeben und transparent korrigieren.
Nein. Aber ganz und gar nicht. Laufend veschwinden Daten aus dem Zugriff über das Internet und das ist auch gut so.
Um als Archiv der Zeitgeschichte zu funktionieren gehört aber etwas mehr dazu, als nur die Daten irgendwo zu haben.
Auch bei den herkömmlichen Medien müssen Daten nicht flüchtig sein. Tonnenweise lagern in Kellern, Speichern und Wohnungen alte Zeitungen, Zeitschriften, CDs, LPs, MusiCassetten, Tonbänder, Videocassetten, Fotoalben, Dias und nicht zuletzt Bücher. Ein riesiges Archiv der Zeitgeschichte. Und erst die Bibiotheken.
Fehler zugeben und transparent zu korrigieren hört sich in der Theorie ganz nett an. Das haben wir unter Phrase 6 schon gehabt.
16. Qualität bleibt die wichtigste Qualität.
Das Internet entlarvt gleichförmige Massenware. Ein Publikum gewinnt auf Dauer nur, wer herausragend, glaubwürdig und besonders ist. Die Ansprüche der Nutzer sind gestiegen. Der Journalismus muss sie erfüllen und seinen oft formulierten Grundsätzen treu bleiben.
Die Nutzer im Netz sind die gleichen wie im Fernsehen und anderen herkömmlichen Medien. Auch im Fernsehen gibt es mehr als genug gleichförmige Massenware mit einem riesigen Publikum. In dieser Beziehung gibt es keine Unterschiede zwischen dem Web und den altgedienten Medien. Beispiele? Mylie Cyrus 1,906,472 Followers auf Twitter, Ashley Tisdale 1,778,195, Katy Perry 1,047,939. Als einziges nicht-technisches Blog unter der Top 10 bei Technorati: "Celebrity Gossip | Entertainment News | Celebrity News | TMZ.com"
Und wieso nur "glaubwürdig"? Wieso nicht "wahrheitsgetreu", "sauber recherchiert" oder "vertrauenswürdig"?
17. Alle für alle.
Das Web stellt eine den Massenmedien des 20. Jahrhunderts überlegene Infrastruktur für den gesellschaftlichen Austausch dar: Die “Generation Wikipedia†weiß im Zweifel die Glaubwürdigkeit einer Quelle abzuschätzen, Nachrichten bis zu ihrem Ursprung zu verfolgen und zu recherchieren, zu überprüfen und zu gewichten – für sich oder in der Gruppe. Journalisten mit Standesdünkel und ohne den Willen, diese Fähigkeiten zu respektieren, werden von diesen Nutzern nicht ernst genommen. Zu Recht. Das Internet macht es möglich, direkt mit den Menschen zu kommunizieren, die man einst Leser, Zuhörer oder Zuschauer nannte - und ihr Wissen zu nutzen. Nicht der besserwissende, sondern der kommunizierende und hinterfragende Journalist ist gefragt.
Bei der letzten Phrase springt nun der Kasper vollends aus der Schachtel. Die "Generation Wikipedia" weiß gar nichts. Selbst Journalisten fallen gnadenlos auf Falschmeldungen herein und schreiben unreflektiert alles ab, so wie sie es von - auch nicht immer - verlässlichen Meldungen renommierter Nachrichtenagenturen gewohnt sind. Nun sind wir auch wieder weg vom Internet und hin zum Web.
Neben den Medien, also dem Transportkanal von den Machern zum Konsumenten, gibt es einen recht gut funktionierenden Rückkanal, der sich Telefon nennt. Viele Radiosender verwenden das seit Jahren um Zuhörer-Feedback zu erlangen oder die Zuhörer in die Gestaltung und den Ablauf der Sendung mit einzubinden.
Mit einem Telefon kann man nämlich auch telefonieren, nicht nur twittern, bloggen oder Videos bei youtube hochladen.
Das Fazit
Gerade mit der letzten Phrase führen sich die Alpha-Tierchen selbst ad absurdum. Das "Web", ein Dienst des Internet, wird als überlegene Technik dargestellt. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass das "Web" mit den Anforderungen, die heute an Kommunikation gestellt werden, in seiner bestehenden Form nicht mehr mithalten können wird. Google hat mit Google Wave schon den ersten Schritt in eine neue Richtung getan, viele weitere werden folgen.
Das Internet ist ein mächtiges Transportmittel und die Dienste, die darüber transportiert werden verändern sich beinahe täglich. Webseiten von 1999 haben mit denen von 2009 fast nichts mehr gemein, ähnliches gilt für die Browser. Das gleiche gilt aber auch für viele anderen Dienste im Internet, das reich an Facetten ist: Datenaustausch (P2P-Netzwerke), Datenbackup, Cloud-Computing, ....
Die Unterzeichner der Phrasen outen sich, ohne sich dessen bewusst zu sein, als gar nicht so verschieden von den Machern der herkömmlichen Medien, die so verteufeln. Sie sind phantasielos, wenig zukunftsorientiert und verhaftet in einer Welt, in der sie sich als das sehen, was sie so lieben: Alpha-Tierchen.
Vielen Dank an jeden, der bis hierher durchgehalten hat oder zumindest noch bis zum Ende gescrolled ist
Bisher mein längster und intensivster Artikel.