Unter Berufung auf die Marktforscher von Forrester Research ist heute auf Pressetext zu lesen:
Überraschend: Facebook und Co verlieren an Reiz
User sind sehr passiv, nur zehn Prozent erzeugen neue Inhalte
und der "Branchenkenner" Klaus Eck sagt dazu:
"Die Menschen zeigen sich in sozialen Medien viel passiver als zu erwarten"
Überraschung?
Jeder, für den diese Entwicklung überraschend ist, hat das Internet immer noch nicht begriffen.
Das Internet ändert die Menschen nicht, es schafft Möglichkeiten, zusätzlich zu denen, die die Menschen schon haben. Es liegt im Wesen des Menschen, dass alles was neu ist, erst einmal interessant ist. Hat man dann ein wenig darüber geredet und ein bisserl gegafft, dann wird es aber auch schnell wieder uninteressant. Dieses Problem kennt jeder Aktivist oder Redner; es ist leichter eine Menge Menschen spontan für etwas zu begeistern, als diese momentane Begeisterung dann über die Zeit zu retten.
Im Internet geht das noch viel schneller von statten. Es gibt eine Reihe von Early Adopters, die neue Dienste aufgreifen, darüber reden und Schienen legen. Auf denen fährt dann die Spaßgemeinde mit dem Hype Train in den Bahnhof. Zu diesem Zeitpunkt sind die Early Adopters aber schon weitergezogen. Manche Dienste haben ein gewisses Potenzial und einen Nutzen, der dafür sorgt, dass sie auch weiterexistieren, wenn der Hype Train wieder abgefahren ist und Bestandteil des täglichen Internet werden; andere sterben einfach still und leise.
Oft erkennt man, dass der Zug wieder losfährt daran, dass die Marketing-Fuzzis im Zug nach hinten zum letzten Wagon laufen und mit schlauen Strategie-Papers und Marketing-Ratschlägen den Mitreisenden vorgaukeln, dass der Zug noch im Bahnhof steht.
Passivität?
Nehmen wir Facebook. Facebook ist ein soziales Netzwerksystem. Aufgrund des großen Zulaufs ist es überaus gut dafür geeignet, dass man frühere Kontakte wiederfindet: Menschen, zu denen man früher schon im Internet Kontakt hatte (und noch hat), alte Bekannte, Schulkameraden. Viele davon sind Menschen, mit denen man auch vor Facebook schon wenig bis gar keinen Kontakt hatte. Solange es neu ist, ist man enthusiastisch, sucht nach Bekannten, vergrößert schon fast besessen seinen Freundeskreis, tauscht Nachrichten aus, man "netzwerkt" extensiv ... bis man feststellt, dass die Freundesliste in Facebook eigentlich gar nicht so verschieden ist von dem alten Telefonbuch, das in einer Schublade im Schrank liegt (bei den Älteren) oder der endlosen Liste von Namen und Nummern im Mobiltelefon.
Es gibt einen Grund, warum man die Leute auf der Telefonliste nicht anruft. Durch Facebook ändert sich dieser nicht und aus diesem gleichen Grund interessiert einen eigentlich nicht wirklich, was sie so alle treiben. Der Mensch ist ein Sammler. Die Kontakte zu haben ist gut, dass sie sich automagisch auf dem neuesten Stand halten und sich nicht alle zwei Minuten die E-Mail Adresse ändert ist noch besser - das reicht dann aber auch für die meisten.
Dazu kommt, dass die wenigsten Benutzer ihre "Freunde" wirklich verwalten - die Dienste unterstützen sie dabei auch nicht sonderlich gut. Letzteres ist wiederum fast verständlich, da die Dienste ja davon leben, dass "viel passiert". Facebook hat das erkannt und bietet immer wieder an, dass man "Freunden", mit denen länger nichts ausgetauscht hat, doch einmal wieder eine Nachricht hinterlassen solle. Hat man aber eine gewisse Anzahl von "Freunden" erreicht wird genau das zum Problem: Reizüberflutung. Ganz ehrlich? Ich kann es verschmerzen, nicht täglich mit 30 Links zu Youtube-Videos oder 20 Musik-Listen oder 100 Katzenbildern zugeschüttet zu werden. Zumal das oft das Einzige ist, was diese "Freunde" an Inhalt generieren und sich mein Geschmack und der meiner "Freunde" manchmal durchaus stark unterscheiden. Will man also den Blick auf das Wesentliche (die Themen und die Menschen, die einen interessieren) behalten und nicht seitenweise Uninteressantes durchforsten, wird man früher oder später konsequent die "Störenfriede" ausblenden.
"Also den N. habe ich gleich am nächsten Tag nachdem ich ihn als Freund hinzugefügt habe auf "ignorieren" gesetzt, weil die Menge an Katzenbildern war einfach nicht auszuhalten."
Auf twitter habe ich selbst vor kurzem mehrere soziale Todsünden begangen und mich bei Leuten, die ich teilweise sogar persönlich kenne "entfollowed". Aber es war wie eine Befreiung - für mich und meine Timeline - und ich habe deshalb noch weitere auf eine Bewährungsliste gesetzt. Der Grund waren nicht die Leute selbst, sondern ihr Kommunikationsverhalten im virtuellen Medium. Das dadurch generierte Hintergrundrauschen an für mich völlig sinnlosen, ja teilweise nervenden Nachrichten war irgendwann einfach zu viel.
Dies führt aber dazu, dass man sich bald eh wieder nur mit den Leuten befasst, mit denen man sich auch außerhalb des Internet befasst. Und mit denen tauscht man sich dann eher in direkter Kommunikation aus, als es in der Öffentlichkeit breit zu treten, was dann den Anschein von Passivität vermittelt. Mit Freunden chattet man eben nicht über twitter, wenn man Alternativen hat, die einem zumindest teilweise Kontrolle über seine eigenen Äußerungen erhalten läßt.
Inhalte
Zunächst einmal ist zu definieren, was denn nun der magische "Content" sein soll, von dem alle reden. In dem eingangs verlinkten Artikel erfolgt eine Aufteilung in
Die Gruppe der "Creators", die einen Blog betreiben, Videos und Musik hochladen oder Artikel verfassen [ ... ] "Critics", die Produkte bewerten, fremde Blogs kommentieren oder in Wikis und Diskussionsforen teilnehmen [ ... ] "Collectors", die beispielsweise Feeds abonnieren und Content zugunsten anderer User organisieren.
Jeder, der das einmal gemacht hat weiß, dass gerade die ersten beiden Gruppen Arbeit bedeuten, viel Arbeit. Dazu kommt dann möglicherweise der Frust, wenn man mit viel Zeit und Mühe 10 Artikel verfasst hat und keinen interessiert es.
Die "Critics" haben zusätzlich mit der Desorganisation des Systems zu kämpfen: wie behält man seine gemachten Kommentare im Auge, um auf Antworten zu reagieren? Gerade wenn man sie nicht in einem geschlossenen System macht, sondern mal hier mal da bei Blogs, über die man so stolpert.
Ein weiterer Spaßkiller sind sogenannte Edit Wars. Wikis locken mit "jeder kann mitmachen und soll beitragen", die Realität sieht dann aber ganz anders aus und der Enthusiasmus geht schnell verloren.
Und natürlich muß man dranbleiben. Will man Anerkennung für Content, braucht man eine Leserschaft. Die schafft man sich aber nicht, wenn man nur einmal im Monat oder gar noch seltener schreibt und dann Belangloses ("Heute waren Fifi und ich im Park" *gähn*). Wie an Neujahr werden hier die guten Vorsätze schnell von der Realität eingeholt. Ich kenne unzählige Blogs, die nach einer 1-6 monatigen Aktivphase nun seit Jahren brach liegen.
Ein weiterer wichtiger Punkt sollte sein, dass die Menschen mehr darüber nachdenken, was sie von sich veröffentlichen, und nicht mehr so freizügig mit ihren Lebensumständen und Privatleben im Internet und den sozialen Netzen hausieren gehen. Auch wenn die Zahlen nicht differenziert genug sind, so hoffe ich doch, dass dies mit ein Grund für den Rückgang ist.
Sieht man sich parallel zum Rückgang der nutzergenerierten Inhalte an wie webbasierte Spiele im Moment boomen, erkennt man sofort, wohin die freigewordene Zeit geht. Laut der Liste von AppData erreichen die Top 40 Spiele zusammen 551.468.199 (eine halbe Milliarde) aktive Spieler pro Monat und stolze 102.371.189 (100 Millionen) Spieler, die täglich spielen.
Metriken
Sucht man zB. bei Google nach Social Media Metrics hat man genug Stoff, um die nächsten Runden Bullshit Bingo problemlos zu gewinnen. Chris Brogan liefert in seinem Blogartikel "Social Media Metrics" hingegen viel realistischere und brauchbarere Ansätze.
Selbst wenn man die Menschen dazu bringt, dass sie ein Thema/eine Website liken, bedeutet das noch lange nicht, dass sie dem Informationsstrom auch folgen. Sieht man sich an, wieviele Themen viele Leute mit like quasi abonnieren, wird schnell klar, dass sie vor Überflutung gar nicht folgen können. Bei einer nicht unrealistischen Annahme von 100 abonnierten Themen und 150 Freunden sind das bei nur einer Meldung pro Woche pro Kontakt 250 Meldungen pro Woche oder 35 Meldungen pro Tag. Der Durchschnitt dürfte aber wesentlich höher und bei 200-300 Meldungen pro Tag liegen. Dies führt dazu, dass die Benutzer die Website Schnurzlprnft zwar liken, aber bei der ersten Gelegenheit aus ihrer Timeline verbannen. Dann, gemessen an der Zahl der Freunde, davon zu sprechen wie beliebt man sei und welche Reichweite man durch eine Präsenz bei Facebook oder Twitter hat, ist mehr als nur naiv.
Eine weitere Quelle von Zahlen lieferte diese Woche sysomos in "Replies and Retweets on Twitter", die zwar nett aber nicht aussagekräftig sind. Sie schreiben, sie haben 1.2 Millarden Tweets untersucht. Woher kamen die? Waren die ohne Filter aus der generellen Twitter-Timeline aller Benutzer genommen? Wurden bestimmte Tweets aussortiert? Was ist mit dummen Retweet-Bots, die einfach dem Stream der Timeline folgen und alles was zu einem Satz Schlüsselwörter passt retweeten, die aber außer dem Spam-Netzwerk, dem sie angehören, aber keinerlei echte Follower haben. Was ist mit Spam-Netzwerken? Ich habe Netzwerke von 5000 und mehr Followers gesehen, die quasi nur aus sich selbst bestehen und durch gegenseitige Retweets versuchen im Ranking oder den trending topics zu erscheinen und Klicks abzugreifen. Diese in die Statistik aufzunehmen ist, als würde man die Anzahl der versandten (nicht der angekommenen) Spam-Mails als Maß dafür heranziehen, wie verbreitet E-Mail Marketing ist und wie gut es offensichtlich funktioniert.
Und jetzt?
Im Internet sterben permanent Hypes. Manche langsam und schleichend, wie Second Life oder MySpace, manche mit etwas mehr Getöse, wie gerade eben Google Wave und manche erhalten immense Vorschusslorbeeren und schaffen es dennoch nicht den Zug zum Halten zu bringen, so wie es ganz sicher diaspora ergehen wird.
Außer den Marketing-Fuzzies ist auch niemand wirklich traurig über derartige Entwicklungen, denn - wie gesagt - war es gut, bleibt es erhalten und den anderen muß man als Benutzer nicht groß hinterherweinen.
*tuuuuuuuuuuut*
Tja, ich muß jetzt Schluß machen, die Schienen sind gelegt, die Weichen gestellt, der Zug fährt weiter. Nächster Halt? Lasst euch überraschen