Es ist schon sehr interessant anzusehen, wie im Nachfeld des Amoklaufs von Winnenden die verschiedenen Parteien versuchen Ihre Pfründe zu sichern.
So hat das Abendblatt Professor Ulrich Hegerl befragt (Artikel Depressive laufen nicht Amok), den Direktor der Uni-Klinik Leipzig für Psychiatrie und Sprecher des Kompetenznetzes Depression (früher übrigens an der LMU München tätig). Dieser weiß zu berichten:
"Wenn man depressiv ist, dann hat man keinen Antrieb, keinen Schwung. Die Dinge fallen einem schwer. Man hat Schuldgefühle, sucht die Schuld aber bei sich und würde nie auf den Gedanken kommen, einfach loszuziehen und wildfremde Menschen oder auch entfernte Bekannte zu töten. Einem Depressiven liegt nichts ferner als so etwas. Dafür hat er weder die Energie noch die Emotionen. Bei einer Depression denkt man in keiner Weise an irgendwelche Gewalttaten gegen Dritte."Nun, das ist wahrscheinlich gar nicht falsch. Was der Herr Professor aber nicht anspricht ist, dass Depressive im Rahmen der Behandlung Antidepressiva verabreicht bekommen und dass sehr viele Antidepressiva, quasi als Nebenwirkung, ein erhöhtes Agressionsverhalten zur Folge haben.
Wenn bei einem Depressiven Aggressionen hochkämen, seien die eher "gegen sich selbst gerichtet".
So hat z.B. die medizinische Regulierungsbehörde der EU im Jahr 2005 eine Warnung mit hoher Dringlichkeit betreffend Antidepressiva herausgegeben (Quelle)
Ein Experten-Kommittee stellt fest, daß Prozac-ähnliche Serotonin Wiederaufnahme Hemmer (SSRI) und Serotonin-Norepinephrine Wiederaufnahme Hemmer (SNRI) mit erhöhtem Suizidverhalten und feindseligem Verhalten in Verbindung zu bringen seien.Sehr interessant in diesem Zusammenhang ist auch der Artikel Psychiatric Drug Use of German Shooter Confirmed: Kretschmer Withdrawing from Depression Treatment:
Thus, the shooter was on psychiatric medications and then quit using them. This created a classic antidepressant withdrawal crisis which is exactly what leads to extreme acts of violence against self or others. As we reported in our previous story, virtually every school shooting that has taken place in the last two decades was carried out by those who either take psychiatric medications or are attempting to quit them.Stellt sich nun die Frage, warum die Medien oder Professor Ulrich Hegerl darauf mit keinem Wort eingeht. Eventuell ist diese Erkenntnis aber unpassend, denn Herr Hegerl scheint ein Fan schneller Wartezimmer-Fragebogen-Diagnose und anschließender Medikation per Flußdiagramm zu sein (es gibt sogar einen Selbstschnelltest im Web - 10 Fragen zur Depressionsdiagnose). Beschränkt man sich dabei auch noch rein auf Pharmakotherapie, ist es natürlich wirklich ätzend, wenn diese so blöde Nebenwirkungen hat und jemand posaunt das auch noch raus.
It's almost as if there is a willing conspiracy by the media to apologize for the pharmaceutical industry and avoid mentioning anything that might implicate Big Pharma's drugs in these school shootings.So sichert halt jeder seine Pfründe und versucht seinen Strafraum sauber zu halten.
Waffenbesitzer (die ich hiermit nicht verteidige) und Killerspiele sind da schon viel willkommenere Sündenböcke.
Und Medikamente heilen ja schließlich ... das weiß doch jeder!
Comments
Aber: Man kann dem KND/Hegerl nun wirklich nicht vorhalten, dass sie sich "rein auf Pharmakotherapie beschränken". Nach der Doktrin des KND ist ganz generell ein Zwei-Fronten-Ansatz das Beste (Psycho- UND Pharmakotherapie). Damit unterscheiden sie sich sogar sehr wohltuend z.B. von amerikanischen und UK-Organisationen, die ausschließlich auf SSRI setzen.
Und, bei aller (berechtigten) Kritik am pushen von Psychopharmaka: Das Depressionsscreening kommt in Deutschland, im internationalen Vergleich gesehen, tatsächlich noch viel zu kurz. Da kann man jetzt schimpfen über Modekrankheit, Überdiagnose, pöse Pharmaindustrie etc. pp. Man kann sich aber auch die Zahlen zu Suizidalität und ihre Korrelation zur Verschreibung von SSRI ansehen. Im Gegensatz dazu, was Dein Artikel impliziert, kommt man dabei zum Ergebnis, dass eine hohe Verschreibungsrate von SSRI mit einer niedrigeren Suizidalidät korreliert (siehe z.B. http://www.medscape.com/viewarticle/498841). Siehe auch den Vergleich UK-Deutschland: in UK setzt man seit ihrer Einführung fast ausschließlich auf SSRI. Und dort ist in den letzten Jahrzehnten die ehemals hohe Suizidalität soweit gesunken, dass sie inzwischen etwa halb so hoch ist wie in Deutschland - wo im Vergleich sehr wenige Psychopharmaka verschrieben werden. Diese Korrelation muss man halt erstmal wegerklären, wenn man SSRIs verteufeln will.
Man muss sich übrigens dann auch mal fragen, wer eigentlich die Risiken und Nebenwirkungen von Gesprächstherapien untersucht. Richtig: kein Arsch. Psychotherapeuten kennen die "Erstverschlimmerung" von psychischen Erkrankungen bei Therapiebeginn bis hin zu gesteigerter Suizidalität durch "Destabilisierung". Als Nebenwirkung berücksichtigt wird das aber praktisch nicht. Ich wage zu behaupten, dass die Lobby der Analytiker in Deutschland vergleichbar ist mit der Pharmaindustrie.
(P.S. Eine Seite, die von einem "Abhängigkeitspotential" bei SSRI spricht, kann ich leider nicht ernstnehmen.)
Zum Thema Suizid und SSRI habe ich noch folgendes gefunden:
FDA Issues Second Warning: Antidepressants May Increase Suicide Risk
http://health.dailynewscentral.com/content/view/1199/0
Stammt auch aus 2005, interessant finde ich den Teil über "Conflicting Conclusions ".
Irgendwie finde ich es schon auffällig, dass fast alles zu dem Thema aus dem Jahre 2005 stammt (auch ein Statement von Hegerl), damals - für mich nachvollziehbar - kein definitives Ergebnis gefunden wurde und seitdem ist nichts mehr zu diesem Thema passiert. Auch z.B. bei den Daten zu Selbstmorden in den USA habe ich nichts für nach 2005 gefunden. Dito für die Daten der WHO.
Hehe, was ich zu den "2 Fronten" gefunden hatte war eine Rechtfertigung von Hegerl, warum man immer ausser einen Psychlogen einen Arzt hinzuziehen sollte und die Begründung war "weil nur der Arzt AD verschreiben darf".
Dazu ist das Thema natürlich extrem vielschichtig und wir sind wieder bei Statistiken. Die Patienten sind abgesehen von der Medikation in einem gewissen "betreuten Umfeld". Dies hat (kann?) wiederum Auswirkungen auf den psychischen Zustand ("jemand ist da, der sich um mich kümmert"). Dann bin ich etwas stutzig geworden, dass die einen von Suizid-Toten reden, die anderen von Suizid-Versuchen. Der eine Wert geht wohl runter, der andere rauf. Heisst das nun, dass Menschen in AD-Medikation mehr Versuche begehen, wovon sehr viel weniger tödlich enden und was ist wenn der Grund dafür?
Zum Abhängigkeitspotential:
http://www.reddit.com/r/reddit.com/comments/84f8b/german_shooter_was_apparently_withdrawing_from/
Darüber kam ich zu dem naturalnews.com Artikel. Was ich da lese hört sich nicht so nett an. Auch hier:
http://ezinearticles.com/?Addiction-and-SSRI-Medications&id=1368570
Wie in letzterem Artikel steht: klar mag es eine Definitionssache sein, was jetzt abhängig genau heißt, aber was ich so gelesen habe von Leuten die die AD-Medikation abgesetzt haben (oder es versucht haben) würde ich doch ziemlich stark auf "cold turkey" tippen, was dazu führt, dass sehr viele sicher nicht von alleine wieder wegkommen (und "nicht alleine" ist für mich abhängig) und falls doch, die Zeit dahin ziemlich hart ist.
Was mich aber extrem stört ist
a) dass es durchaus Zeiten im Job gibt, bei denen ich im Wartezimmer-Screening keine 10 Punkte erreichen würde. Das passiert nicht laufend und es ist nach dem Projekt wieder vorbei, aber es passiert. Deswegen denke ich nicht, dass ich depressiv bin. Ich versuche prinzipiell immer meinen Medikamentenkonsum (selbst bei Kopfschmerzen) auf das absolute Minimum zu beschränken. Da kommt mir das so vor wie "Heute schlecht drauf? Schmeiss ein paar ADs ein, dann isses wieder gut und bleibt auch so" und das kann ich nicht gut finden. Dass z.B. auch Schilddrüsenfehlfunktionen und anderes dazu führen können finde ich in den Ablaufdiagrammen überhaupt nicht. Ich mag keine Übersimplifizierungen.
b) wenn sie schon mit der Chemie des Gehirns rumpegeln müssen, dann sollen sie sich auch nachhaltig und verantwortungsvoll um die Patienten kümmern. Da sehe ich die Ärzte durchaus in einer Pflicht. Wenn jemand AD nimmt und er erscheint nicht zum Check, dann muß da was passieren und nicht die Reaktion sein "mei, hat er halt keinen Bock mehr". Klar ist das aufwändig und klar kostet das Geld, aber wer A sagt muß sich auch dem B stellen.
c) die Vergangenheit hat gezeigt, dass Selbstmordraten mit wirtschaftlicher Lage, (häuslicher) Gewalt und vielen anderen Faktoren einhergehen. Sich hinzustellen und zu sagen "weniger SSRI Einahme führt direkt zu höheren Selbstmordraten" halte ich daher für sehr gewagt und unseriös.
und natürlich der Grund, warum ich den Artikel geschrieben habe:
d) dass die Medien einmal mehr sehr selektiv über das berichten, was ihnen in den Kram passt und die Politiker das quatschen was sie glauben verstanden zu haben und was dem strategischen Feindbild entspricht. Kris fasst es schön zusammen: http://blog.koehntopp.de/archives/2404-Konsequent.html
*Habe noch ein paar Sachen gefunden, die ich nicht wirklich bewerten kann, aber interessant finde:*
http://www.sueddeutsche.de/wissen/761/434509/text/
Hegerl: In Studien mit Kindern und Jugendlichen wurde festgestellt, dass es während der Behandlung mit Antidepressiva zu mehr Suizidgedanken und zu selbstschädigendem Verhalten gekommen war. Tatsächlich umgebracht hatte sich kein einziger der Studienteilnehmer. [...] Die Verschreibungen gingen in den USA um mehr als 20 Prozent zurück. Und danach kam es in der betroffenen Altersgruppe erstmals seit vielen Jahren zu einem steilen Anstieg der Selbstmordrate.
http://www.medicalnewstoday.com/articles/81868.php
Youth Suicide Rate Rises 8% In USA, Biggest Climb In 15 Years (09/2007, bezieht sich wohl aber auf 2004)
In 1990 the suicide rate for 10-24 year-olds was 9.48 per 100,000 people; in 2003 it fell to 6.78 per 100,000 people; in 2004 it rose to 7.32 per 100,000 people.
US Mortability Tables: http://www.cdc.gov/nchs/datawh/statab/unpubd/mortabs.htm
Grafiken dazu: http://en.wikipedia.org/wiki/File:Suicides_by_race_hispanic_gender_and_age_1999-2005.png
Suicide Rates Overstated in People with Depression
http://mentalhealth.about.com/cs/depression/a/suiciderates.htm
Today the diagnosis has been greatly expanded to include many people with mild to moderate symptoms that can be treated by medication or therapy. Under this broader definition, up to 20 percent of Americans could be diagnosed with depression.
Dass SSRI in vielen Fällen sehr gut wirken und manchen Depressiven, die früher in die Geschlossene gewandert wären, ein einigermaßen akzeptables oder sogar gutes Leben ermöglichen, ist (trotz aller Kritik), heute empirisch gesichert. Das bezieht sich auf mittelschwere bis schwere klinische Depression.
Das Szenario "Heute schlecht drauf? Schmeiss ein paar ADs ein, dann isses wieder gut und bleibt auch so" ist lächerlich. Alle heute verschriebenen SSRIs wirken frühestens nach drei bis vier Wochen und eignen sich wirklich nicht als "upper" oder "happy pills". Genau solche bei Laien verbreiteten Missverständnisse versucht das KND - meiner Meinung nach ganz erfolgreich - auszuräumen. Soweit ich weiß, wird vom KND auch nicht propagiert, bei leichten Depressionen ("schlecht drauf") Psychopharmaka zu verschreiben. Abgesehen davon, dass SSRI gegen schlechte Laune nicht mal helfen, wäre das für das deutsche Gesundheitssystem auch viel zu teuer...
Dass die Einahme von Anti-Depressiva zu einem erhöhten Aggressionspotential führen kann habe ich selbst erlebt.
Da nicht einmal ansatzweise geklärt ist, warum diese Medikamente bei manchen Patienten überhaupt keine Wirkung zeigen, denke ich es ist berechtigt zu sagen, dass es bei diesen Medikamenten (wie bei *allen*) zu verschiedensten Reaktionen kommen kann und niemand mit Sicherheit weiß, welche das sind (oder eben nicht). Selbst auf Aspirin reagieren unterschiedliche Leute sehr unterschiedlich und mit einem gewissen Promille-Faktor sogar mit dem Tod.
Deshalb finde ich es genauso falsch zu sagen "bei mir war es so, darum kann das nicht sein".
Entsprechend der Definition von "Amok" nach (z.B. http://de.wikipedia.org/wiki/Amok ) ist meiner Meinung nach der Begriff Amok-Läufer komplett irreführend, denn in - soweit ich weiss - allen Fällen, hatte es wenig mit Amok zu tun, sondern eher mit Planung. Keiner von denen ist am Morgen aufgewacht und hat spontan beschlossen "ich laufe jetzt Amok".
Der Auslöser für meinen Artikel hier war denn auch der auf naturalnews.com, der ja ziemlich klar die "Schuld" auf den Zustand mehr oder weniger direkt nach der medikamentösen Behandlung legt.
Ich denke nicht, dass es "das eine" gibt, was dazu führt, dass Leute losziehen und im großen Stil andere abmetzeln. Ich denke dass es einer Reihe von Faktoren bedarf, die zusammenspielen müssen und ich denke, dass man wenn, dann aber auch viele Faktoren unter Beobachtung halten sollte und da sehen wohl auch Betroffene im Bereich depressiver Erkrankungen und deren Nachsorge ein erhebliches Defizit.
Und wie cohu schon geschrieben hat: "wer untersucht die Psychotherapeuten"?
Geht es nicht irgendwie immer darum "Du musst die Quelle Deiner Probleme finden und sie bewältigen, Ziele setzen"?